Variationen über Variationen

Michael Wollny © Jörg Steinmetz

Michael Wollny »Goldberg-Tangenten« mit Leafcutter John & Alex Nowitz

Sa, 13. Oktober 2018 · 20 Uhr · Kunstkraftwerk, Leipzig · 42. Leipziger Jazztage

 

Auf dem Höhepunkt seines Schaffens verlegt der Leipziger Thomaskantor Johann Sebastian Bach 1741 die Goldberg-Variationen. Zunächst sind es – so auch der Originaltitel – „Klavierübungen“ über ein schlichtes Thema. Doch im Verlauf der Geschichte wird deutlich: Die Goldberg-Variationen sind mehr als das. Sie sind eine kompositorische und intellektuelle Meisterleistung. Eine Manifestation der menschlichen Kreativität, die sich innerhalb von Spielregeln – bei Bach die des barocken Kontrapunkts – auf eleganteste Weise bewegt. Bewegend auch deshalb, weil Bach der scheinbar so strengen Ordnung der Töne Gefühle abtrotzt.

Fünf Jahre wiederum arbeitet das junge Klaviergenie Glenn Gould daran, dem Bach’schen Notentext eine adäquate Interpretation abzuringen. 1955 spielt er seine erste Interpretation der Goldberg-Variationen ein. Bestechend ist seine virtuose Handhabung des Klaviers. Sein präziser, trockener Anschlag und sein Timing können als Vorbild für Jazzmusiker dienen. In den langsamen Passagen scheint die Musik schwerelos zu singen, und immer kann man aufgrund der glasklaren Spielweise dem komplexen Gebäude der Komposition folgen. Dieses Debüt begründet den Weltruhm Goulds. Erst kurz vor seinem Tod unternimmt Gould einen zweiten Versuch mit dem Werk. 1981 gibt er der Musik mehr Zeit. Der jugendliche Geltungsdrang ist einer nachdenklichen Sicht gewichen.

Mit einem Film über die Studioproduktion der Goldberg-Variationen Glenn Goulds 1981 entsteht in Europa geradezu ein Gould-Hype. Es ist nicht ganz klar, ob Thomas Bernhards Interesse an Glenn Gould durch diesen Film geweckt wurde. Jedenfalls ist Bernhard so beeindruckt von der an Wahnsinn grenzenden Besessenheit, mit der der kanadische Pianist Musik macht, dass er ihn in den Mittelpunkt eines Romans stellt. »Der Untergeher« erscheint 1983, kurz nachdem Gould gestorben ist. Folgt man Bernhards Ausführungen im »Untergeher«, dann lassen sich Bachs Goldberg-Variationen nach Glenn Gould nicht mehr aufführen. In der fiktiven Handlung des Romans lernen zwei junge Pianisten Gould bei einem von Horowitz geleiteten Meisterkurs in Salzburg kennen. Und beide verzweifeln im Verlauf des Romans an der bedingungslosen Hingabe, mit der Gould sich der Musik verschreibt, also an der Erkenntnis, dass sie beide vergleichsweise mittelmäßig bleiben werden. Es folgen Bernhard’sche Sprach-Variationen – den Variationen Bachs nicht unähnlich – über künstlerische Radikalität und Selbstaufgabe, das Verhältnis des Künstlers zum Publikum, die Ausbildung an Hochschulen, Depression und das Scheitern.

 

Als der deutsche Jazzpianist Michael Wollny zur Eröffnung der Spielzeit der Alten Oper Frankfurt gefragt wird, ob er ein Projekt zu den Goldberg-Variationen machen könne, bedient er sich bei Thomas Bernhard. Wollny spielt „über Bande“. Er kuratiert eine „Versuchsanordnung“: Mit dem Sprecher Alex Nowitz und dem Elektronik-Musiker Leafcutter John bringt er Variationen über Bernhards »Untergeher« auf die Bühne. Wir sind jetzt also bei Variationen (Wollnys Tangenten) über Variationen (Bernhards »Der Untergeher«) über Variationen (Goulds Interpretationen) über Variationen (Bachs Goldberg) angekommen. Während die Variationen in ihren verschiedenen Formen (biologischen, sprachlichen, künstlerischen) sich durch die – noch so minimale – Abweichung vom Gleichen auszeichnen, ist die Tangente eine geometrisch-mathematische Figur, die dadurch bestimmt ist, etwas nur in einem Punkt zu berühren. Den Kreis der Goldberg-Assoziationen zerteilt sie nicht, gleichwohl bleibt sie auch nicht unbeteiligt. Sie schwebt zwischen der Berührung des konkreten Materials und der ungebundenen Freiheit des Improvisierens. Auf unvorhersehbare Weise diskutiert Michael Wollny musikalisch und pianistisch mit Glenn Gould. Alex Nowitz leiht seine Stimme Thomas Bernhards Text, der kompositorische Ideen von Bach inkorporiert. Und wer weiß, was auf den Plattentellern von Leafcutter John landet? Schlussendlich also eine Schlacht der Referenzen?

Die letzten Jahre haben gezeigt, dass Michael Wollnys Kunst darin besteht, die entferntesten künstlerischen Objekte zu amalgamieren. Seine Goldberg-Tangenten durchqueren die unterschiedlichen Sedimentschichten der Variationen von Bach über Gould bis Bernhard und münden schließlich in der Unmittelbarkeit des Bühnengeschehens, in Michael Wollnys idiosynkratischer Art der Improvisation. Wenn wir nach diesem Abend Goulds Aufnahme der Goldberg-Variationen auflegen, werden wir sie sicherlich mit anderen Ohren hören.

 

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