Bach – Beethoven – Coltrane – Mehldau

Brad Mehldau »After Bach«

Do, 8. Oktober 2015 · 20 Uhr · Thomaskirche, Leipzig · 39. Leipziger Jazztage

 

„Tief ist der Brunnen der Vergangenheit. Sollte man ihn nicht unergründlich nennen?“
(THOMAS MANN)

Die fließende Zeit kristallisiert sich uns unbekannterweise immer wieder in Momenten. Erst retrospektiv können wir von Abschnitten reden, von Epochen. Nur die Geschichte enthüllt die Zusammenhänge, die in der Gegenwart noch nicht zu überblicken sind. Mit diesen Gedanken eröffnet Brad Mehldau eine Reihe von Aufsätzen unter dem Titel »Creativity in Beethoven and Coltrane«, die sich um die Kernbegriffe ,Kreativität‛ und ,Musik‛ drehen. Darin weist er, dessen Position als Klaviergenie schon seit Langem als unbestritten gilt, sich außerdem als einer der großen Denker der Musik der Gegenwart aus. Folgender Text ist der Versuch ihm darin zu folgen. Kann mit dem Denken Musik möglicherweise anders gehört werden? Frei nach Brad Mehldau erweitere ich also die Namensreihe: Bach – Beethoven – Coltrane – Mehldau

Mit dem Tod Johann Sebastian Bachs endet 1750 eine Epoche. Die alte Schule kontrapunktischer Regeln wird von einer neue Schule des Affekts abgelöst. Diese Ablösung ist in ihrer Radikalität heute nicht mehr zu erfassen, zu sehr ist unser Ohr in vielfältigen anderen Klangsprachen sozialisiert. Über den Abgrund der Vergangenheit hinweg ist es uns unmöglich, eine genaue Vorstellung davon zu entwickeln, wie Musik in der Epoche des Barock gehört und empfunden wurde. Es geht ein Riss durch die musikalische Zeit. Das ist vielleicht tragisch, gilt Bach doch als einer der größten Improvisierer aller Zeiten. Es bleibt nur die fantastische Vorstellung: Was wäre, wenn Bach auf Mehldau träfe und beide, Bachs Zeit entsprechend, ein Duell an zwei Flügeln ausfechten würden? Das Gespräch der beiden Klaviergenies würde jedoch in eine Richtung kippen. Einer lauschte in Richtung Vergangenheit.

Zu Bachs Zeiten hatten kontrapunktische Regeln die Tonsprache fest im Griff. Am Ende seines Lebens sah er sich mit einer Strömung konfrontiert, die individuellen Emotionen und Einfällen des Komponisten mehr Freiraum einräumen wollte. Eine neue Freiheit sollte und hat die Übermacht der alten Regeln durchbrochen. Die Fuge wurde von der Fantasie abgelöst. Doch die jüngere Generation hat ein formales Problem. Wie können im frei assoziierenden Komponieren formal schlüssige Werke entstehen? Man stellt fest: Gerade Dank ihrer strengen Grenzen ließen diese Formen Freiraum für eigene Ideen. Einerseits versucht man den großen Kanon an überlieferten Formen zu revolutionieren. Andererseits muss sich der ungebundene Geist für seine allzu freien Gedanken selbst ein Gerüst bauen.

Die Lösung wird nach zahlreichen Experimenten Sonatenhauptsatzform heißen, ein Kompositionsverfahren, dass meist aus zwei kontrastierenden Ideen in verschiedenen Abschnitten eine größere Werkeinheit generiert. Zunächst werden die Ideen vorgestellt, dann werden sie in einer Durchführung verarbeitet und abschließend in einer Reprise noch einmal in Erinnerung gerufen.
Dabei gibt ständig das Material der jeweiligen Idee die Entwicklung derselben vor. Verkürzt gesagt entsteht hier die Form aus dem Material, während sich in der (Bachschen) Variation das Material den Regeln der Form beugen muss. Der Komponist der in größter Genialität die Form aus dem Material entwickelt, ist sicherlich Beethoven. Zwischen Bach und Beethoven liegen musikalische Welten. Sie sind wie Nord- und Südpol.

Noch heute gibt es, kompositorisch gesehen, vor allem diese zwei starken Pole: Die Vielfalt kompositorischen Schaffens spannt sich einerseits zwischen strengen Formen auf, die durch ihre formalen Grenzen leicht verfügbaren Freiraum anbieten und andererseits in der Sonatenhauptsatzform, die dem Material jedwede Möglichkeit zur Entfaltung lässt, aber formal gesehen unberechenbar bleibt. Nahezu alle anfänglichen Jazz-Improvisationen machen vom geschlossenen Variationssystem Gebrauch. Eine bestimmte Harmoniefolge in festgelegter Taktzahl wird Chorus um Chorus wiederholt. Die Anzahl der Takte und die Positionen der Akkorde sind festgelegt, manchmal sogar bestimmte rhythmische Patterns oder Pausen. Innerhalb dieses Rahmens jedoch kann der Solist aus dem vollen Freiraum seiner Ideen schöpfen. Die disparaten Ideen werden durch die einheitliche Struktur wieder eingefangen. Das beste Beispiel der unbändigen Kraft formal limitierter Variationen ist Charlie Parker. Der allergrößte Teil seiner Soli ist in nur zwei formalen Schemata entstanden – Blues und Rhythm Changes – und doch besitzt jedes einzelne Solo seine eigene Kreativität.

Aufbauend auf dem Variationssystem haben sich zunehmend Versuche entwickelt, die engen formalen Grenzen zu sprengen. Zu den konsequentesten Versuchen zählen dabei sind die mäandernden Soli von John Coltrane. Schon in den frühen Aufnahmen besitzen sie eine Energie, die aus der Taktgrenze und dem formalen Schema auszubrechen sucht. Oft spielt Coltrane Phrasen, die die Takte zum überlaufen bringen, die Enden der Soli wirken oft wie willkürlich unterbrochen. Schlussendlich mündet dieses Überlaufen in eine ozeanische Form. Die Form des Stücks als Spielraum des Solisten wird abgelöst von der modalen Klangfläche. Es gibt nur noch einen Takt, nur noch einen Orgelpunkt. Ein Zentrum, das sich stetig verändert und ständig neu pulsierende Energie freisetzt. Wie Bach markiert auch Coltrane eine Zäsur in der Musikgeschichte. Wieder löst die individuelle Suche nach künstlerischer Freiheit ein altes formales Muster ab.

Und Mehldau? An dieser Stelle wird für mich eines seiner frühen Alben bedeutsam. Ich kenne kaum ein Jazzalbum neben »Elegiac cycle«, dass gleichzeitig solch ausufernde, pulsierende und kreative Improvisationen und derart strenge und formal schlüssige Elemente enthält. Für mich klingt dieses Album wie der Versuch einer Synthese aus Variation und Sonatenhauptsatzform. Die beiden großen gegensätzlichen Kompositionsansätze sollen gemeinsam gedacht werden. Das Album mündet in einer groß angelegten Reprise, die in Erinnerungen schwelgend, all das zuvor Gehörte noch einmal aufruft.

Da macht jemand Musik, der gleichzeitig den Moment der Ekstase feiern kann und den geistigen Zusammenhalt der Dinge nicht aus den Augen verliert. »Elegiac cycle« ist erst der Anfang seines langen Schaffensprozesses als Solopianist. In den darauffolgenden Jahren vertieft Mehldau, sowohl solistisch als auch mit seinen verschiedenen Ensembles, seinen dialektischen Ansatz weiter und wird so zu einer prägenden Gestalt seiner Künstlergeneration. Dies lässt sich aktuell auch an Hand einer Sammlung von Platten nachvollziehen, die sein solistische Schaffen der letzten 10 Jahre dokumentiert.

Und was macht ein Genie in der einsamen Höhe des von ihm erklommenen Berges? Bach hat eine Pause gemacht – in den letzten 10 Jahres seines Lebens schreibt er fast keine Musik mehr. Mehldau spielt weiter. Das ist Glück und Bürde eines improvisierenden Künstlers, er ist nie am Ende. Was, wie Mehldau betont, zu einem großen Teil am Publikum liegt. Es sorgt für immer neue Umstände, sodass jedes Live-Konzert einmalig ist. Deswegen wohl spielt Mehldau noch weiter. Das wiederum ist unser Glück.

 

 

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