Die Entwicklung des Jazz ist eine (sehr) dynamische. In seiner etwa hundertjährigen Geschichte haben sich etliche Stile abgelöst, vermischt, abgelehnt. Einige wurden vergessen, andere, fast verloren Gegangene, wurden wieder ans Licht gebracht. Ein entscheidendes Merkmal dieser Musik ist ihr Streben nach Erneuerung und der Drang etwas Unbekanntes zu Gehör zu bringen. Jazz entwirft eine Zukunft. (Das ist der eine Pol.) Der andere Pol ist die Tradition. Die Geschichte, die auf unterschiedlichste Weise weitergegeben wird: Tonträger, die glücklicherweise einen Teil der Vergangenheit in die Gegenwart transportieren können. Erfahrungen, die jüngere mit älteren Musikern machen können, die ihrerseits ein Erbe vergangener Generationen weitergeben. Jazz hat eine Vergangenheit. (Das ist der andere Pol dieser Musik.)
Ich liebe Jazz. In meinem Studium habe ich mich einerseits mit Tradition beschäftigt, mit Broadwaysongs, den Klischee-Harmonie-Verbindungen, der harmonischen Grammatik und mit verschiedenen Individual-Stilen. Andererseits versuche ich meine eigene Sprache zu finden, einen eigenen (Kompositions-)Stil, eigenes Material zu generieren und aus diesen Bausteinen eine selbstständige Musik zu kreieren. Mein Ziel wäre es, mit Einflüssen aus der Vergangenheit und meiner Vorstellung einer Zukunft, Musik für die Gegenwart zu komponieren und zu spielen.
Eine Person, die mich mit ihrem eigenen Stil besonders beeindruckt hat, ist Charlie Parker. Ohne dass ich es musikgeschichtlich ausweisen könnte, ist Charlie Parker für mich der Inbegriff einer Revolution. Sein Spiel hat etwas radikal Individuelles und Neues. Nur: die revolutionäre Dynamik ist aus meiner heutigen Sicht verblasst. Die Kopie eines Solos im Stile Charlie Parkers erinnert mich an eine ausgeblichene Fotografie. Der einstige Revolutionär hat sich in eine Gallionsfigur der Tradition verwandelt. Die Zeit hat etwas ausgewaschen. Parker ist zum kanonischen Beispiel dessen geworden, was eine Jazz-Hochschule unterrichtet. Das bedeutet nicht, dass seine Musik an Zauber verloren hätte. Noch nicht einmal, dass sie weniger revolutionär ist. Aber mir erscheint die Geschichte wie eine Einbahnstraße: Ich kann diese Musik lieben, aber ich kann sie auf der Bühne nicht einfach reproduzieren. Charlie Parker fordert mich auf doppelte Art und Weise heraus: für mein traditionsinteressiertes Selbst ist die kreative Beherrschung seiner Sprache eine kunsthandwerkliche Messlatte. Charlie Parker ist ein Visionär und ein Virtuose auf seinem Instrument. Virtuos in seiner Technik, aber auch in seinem Vermögen, den Überblick über ein Improvisationsformat zu behalten, um seine Phrasen darin auf interessanteste Weise unterzubringen. Seine Phrasenbausteine mögen vergleichsweise leicht zu sortieren sein. Im Charlie-Parker-Omnibook sind einige der schönsten Soli transkribiert. Das Material in Einzelteilen lässt sich üben. Das Tempo kann man nach und nach steigern. Virtuosität stellt sich meist mit der Wiederholung ein. Aber neben der zugleich rasanten und eleganten Schnelligkeit, die sich üben ließe, ist es seine kreative Unberechenbarkeit, die sich nur sehr schwer kopieren lässt. Die zweite Herausforderung – vielleicht die Größere, weil der Weg noch nebliger ist – bestünde darin, sich von Charlie Parkers Eigenständigkeit inspirieren zu lassen. Diese Eigenständigkeit interessiert mich an Charlie Parker noch mehr als die konkrete Sprechweise. Der Entwurf einer selbstständigen Musiksprache ist ein Ziel meines künstlerischen Schaffens. In Charlie Parker sind Revolution und Tradition verschmolzen. Er ist das perfekte Vorbild für mich. Dabei ist, wie bei allen Vorbildern, das Ideal immer unerreichbar und doch dient es als Ausrichtungspunkt, als Wegmarke und als Ziel. Wenn ich mich also in meinem Abschlusskonzert mit Parker und seinen Kompositionen auseinandersetze, dann ist die Musik von dem Gedanken getragen, Charlie Parker als Ausgangspunkt einer Suche zu betrachten, die in etwas Persönlichem und Eigenständigem mündet. Im selbstgewählten historischen Material wird gerade die Bearbeitung sichtbar. Und doch verschwindet natürlich auch beim Bildhauer der Marmor nicht. In der Statue ist immer gleichzeitig Material und Bearbeitung. Wie eine bekannte Stimme bestimmt das Material von Charlie Parker den Text des Konzert mit. Wie durch ein Spiegelkabinett gejagt, bleibt Manches erkennbar und Anderes wird zur unerkennbaren Abstraktion. Es sind diese Echos der Vergangenheit, das Fremde im Eigenen und die Gespenster meiner aller-eigensten Sprache, die mich interessieren.